Katherine Biesecke
Physiotherapeutin und Psychologin, Jahrgang 1964
„Alles wäre machbar, […] wenn nicht bei der politischen Arbeit die männliche Dominanz und Arroganz vieles unmöglich machen würde, ich mich nicht permanent um meine Existenzberechtigung bemühen müsste.“ schreibt Katherine Biesecke im September 1990 in ihr Tagebuch. Es ist der erste Eintrag seit August 1989. Dazwischen ist viel passiert. Ein Staat befindet sich in Auflösung. Die damals 25-Jährige ist daran beteiligt.
Aufgewachsen ist sie in Fürstenberg/Havel. Nach Potsdam kommt sie 1982, um an der Pädagogischen Hochschule Slawistik und Anglistik zu studieren. Ungewollt stellt sie dort sozialistische Meinungen in Frage, denn das Schwarz-Weiß-Denken liegt ihr nicht. Zwei Jahre später wird sie exmatrikuliert – in beiderseitigem Einvernehmen, wie sie betont und mit der Begründung „als Lehrerin aus politischer Sicht nicht geeignet“. Sie ist in künstlerisch-alternativen Kreisen unterwegs, sie ist kritisch, aber nicht politisch engagiert. Das Ministerium für Staatssicherheit versucht erfolglos, sie anzuwerben.
Nach der Exmatrikulation arbeitet Katherine Biesecke als Erziehungshelferin mit taubblinden Kindern und Erwachsenen im Babelsberger Oberlinhaus. Immer wieder fragt sie sich: „Will ich in diesem Land so leben, wie ich jetzt lebe?“ Ausgelöst wird diese existentielle Frage durch Menschen in ihrem Umfeld, die sich das Leben genommen oder die DDR verlassen haben: „[…] so alle zwei Jahre hat sich unser Freundeskreis verändert, einfach weil die Leute in den Westen gegangen sind, sowohl Freundinnen und Freunde als auch im dienstlichen Kontext. In der kirchlichen Einrichtung haben nun mal oft Menschen gearbeitet, die in staatlichen Einrichtungen nicht mehr arbeiten durften, weil sie einen Ausreiseantrag zu laufen hatten.“[1]
Durch Freundinnen und Bekannte kommt sie in Verbindung mit oppositionellen Kreisen. Die Fälschung der Wahlergebnisse im Mai 1989 erlebt Katherine Biesecke im Prenzlauer Berg in Berlin. Monate später muss sie sich wieder von Freunden verabschieden, die in den Westen flüchten. Im Herbst nimmt sie an Veranstaltungen des Neuen Forums in der Babelsberger Friedrichskirche und an Initiativen von Frieder Burkhardt teil, dem Rektor der Ausbildungsstätte für Gemeindediakonie und Sozialarbeit im Civil-Waisenhaus.[2] Auch zu den Protest-Demonstrationen in Potsdam im Oktober und November geht sie.
Über Dörte Wernick, die wie sie aus Fürstenberg stammt, erfährt sie von der Unabhängigen Initiative Potsdamer Frauen und schließt sich ihr im Januar 1990 an. Der Eintritt in eine Partei wäre für Katherine Biesecke weder in der DDR noch in der Bundesrepublik in Frage gekommen: „[…] für mich war immer klar, so eine Massenorganisation ist nicht meins, und ich habe erlebt, dass die Menschen, die dort hingegangen sind, nichts verändern konnten, weder von innen noch von außen und eher so eine Parteiendisziplin […] angenommen haben im Laufe der Zeit.“[3]
Gut in Erinnerung ist ihr die erste Begehung des in Auflösung begriffenen Untersuchungs- gefängnisses der Staatssicherheit in der Otto-Nuschke-Straße (Lindenstraße) am 5. Dezember 1989 gemeinsam mit Vertretern/innen der Bürger*innenbewegung: „Da haben uns zum Teil noch Menschen begrüßt in den Büros. Die saßen da noch am Schreibtisch und am Telefon. […] Also, die schlossen sich uns auch an und erzählten zum Teil auch von ihren Aktivitäten in dem Haus.“[4]
Später, als die Fraueninitiative dort ihr Büro hat, deckt Katherine Biesecke mit anderen die Öffnungszeiten ab, bis die ersten Stellen bewilligt sind. Außerdem vertritt sie die Initiative im Beirat Soziales und Gesundheitswesen im Bezirk Potsdam.[5]
Am 17. Februar 1990 fährt sie zur Gründung des Unabhängigen Frauenverbandes (UFV) nach Berlin und wird dort als Vertreterin der Bezirke Potsdam, Cottbus und Frankfurt/Oder in den Sprecherinnenrat gewählt.[6] „Unbedarft, wie ich war, wusste ich weder, was das bedeutet noch, was auf mich zukommt […]“ erinnert sie sich.[7] Das Amt hat sie bis zum 29. September 1991 inne. Die Zeit bis dahin ist voller weiterer Aktivitäten: Arbeit im Oberlinhaus, berufsbegleitende Ausbildung zur Physiotherapeutin, Mitarbeit in der Fraueninitiative, Wahlkampf für den UFV und ab Sommer 1990 zusammen mit Beate Müller, Lea Edelmann und Jeanette Toussaint Dienste im Café des Frauenzentrums. Die Einträge in ihrem Tagebuch im September 1990 verweisen auf die Fülle der (ehrenamtlichen) Aufgaben, aber auch den Frust und die Ängste jener Zeit: „Arbeite […] auf 3-4 verschiedenen Stationen als Springerin während der Urlaubszeit [in der Klinik des Oberlinhauses], danach für UIPF oder fürs Frauencafé.“ „Vergangene Woche mit Cafévorbereitung vertan, jetzt Wochenende bin ich allein zuständig & es ist ätzend, die halbe Nacht wegen irgendwelcher Typen[8] zu versitzen.“ „Meine eigene Betroffenheit vor dem, was in diesem beknackten Land von den Menschen gewollt vor sich geht, ist größer als gewollt. Fürchte, insbesondere nach dem Urlaub, stärker in diesem Deutschen verwurzelt zu sein, als erhofft. Angst vor der eigenen Unsicherheit. Die Gewissheit, fähig zu sein, aus jeder Situation etwas Positives nehmen zu können, bewahrt mich vor meinen Ängsten.“ Damit meint sie vor allem die geplante Wiedervereinigung der beiden Länder, die bereits im Wahlkampf zu den ersten freien Volkskammerwahlen im März 1990 eine zunehmende Rolle spielt. Sie hatte, wie ein Teil der DDR-Opposition gehofft, einen neuen eigenständigen Staat mit zu schaffen, der aus den Fehlern des alten Systems lernt.
Es sind die letzten Einträge im Tagebuch, erst im September 1991 führt sie es weiter – in dem Monat, in dem sie sich nicht mehr als UFV-Sprecherin zur Wahl stellt und ein Psychologiestudium aufnimmt.
Nach dem Studium verlässt Katherine Biesecke Potsdam, um ein heilpädagogisches Kinderheim in Sachsen-Anhalt zu leiten. 2002 kehrt sie ans Oberlinhaus zurück, übernimmt vier Jahre später die Leitung des Kompetenzzentrums für Taubblinde und wird stellvertretende Geschäftsführerin des Bereiches LebensWelten. Heute arbeitet sie als Psychologin in den Berufsschulen im Oberlinhaus. Verbindlichkeit ist ihr sehr wichtig und Zurückhaltung. Sie beobachtet Situationen und Menschen zunächst, bevor sie ihre Meinung äußert. Vor allem, wenn viele Emotionen im Spiel sind. Das habe sie schon fast perfektioniert, sagt sie lachend. Schließlich ist das auch die Basis für ihre Arbeit.
Eine ihrer künstlerischen Leidenschaften ist das Fotografieren. Und so sind Katherine Biesecke einige Porträts für dieses Projekt zu verdanken, die sie von Mitstreiterinnen aus der Unabhängigen InInitiative Potsdamer Frauen aufgenommen hat.
9. Juni 2021
[2] Vgl. auch Frieder Burkhardt: An der Protokollstrecke. Das Civilwaisenhaus, in: Sigrid Grabner/Hendrik Röder/Thomas Wernicke (Hg.): Potsdam 1945 – 1989. Zwischen Anpassung und Aufbegehren. Potsdam 1999,
S. 143-146.
[3] Interview von Jeanette Toussaint mit Katherine Biesecke am 11.11.2019.
[4] Ebd.
[5] Robert-Havemann-Gesellschaft/Archiv der DDR-Opposition, UFV-Bestand, A/132 Potsdam/UFV-Büro + UIPF 1990 / Briefe von und an UFV + UIPF: Einladung zum gesellschaftlichen Beirat am 25.1.1990 durch den Rat des Bezirkes Abt. Gesundheits- und Sozialwesen, 16.1.1990; Privatbesitz Jeanette Toussaint: Protokoll UIPF vom 6.2.1990. Laut Protokoll war sie auch als Mitglied im Beirat zur Erhaltung des Rechts auf Arbeit in der Stadt Potsdam nominiert. Aber sie konnte sich nicht erinnern, ob sie die Vertretung tatsächlich übernommen hat.
[6] Anne Hampele Ulrich: Der Unabhängige Frauenverband. Ein frauenpolitisches Experiment im deutschen Vereinigungsprozeß. Berlin 2000, S. 304 (hier fälschlich Kathrin Biesecke).
[7] Interview von Jeanette Toussaint mit Katherine Biesecke am 11.11.2019.
[8] Zu dieser Zeit waren auch Männer im Café zugelassen.